

Texte
Eine wahre (Trost-)Geschichte
Für alle Kinder, die weg mussten vielleicht schon oft aber noch nicht "angekommen" sind und die auch nicht wissen warum sie da sind wo sie gerade sind (in einer Einrichtung eines Jugendhilfeträgers oder woanders), die darüber sehr traurig sind und die eine tiefe Sehnsucht nach "zu Hause" in sich tragen und die das alles nicht verstehn ... und für alle Menschen, die auf diese Kinder treffen, erzähle ich hier von einem besonderen Morgen …
Nachdem für einen sechsjährigen Jungen das Neue und Aufregende seines Umzugs in unsere Wohngruppe nach kurzer Eingewöhnungszeit verflogen war, zog der Alltag in sein verändertes Leben ein. Neben weiterhin tollen Unternehmungen gehörten immer auch Regeln, Konsequenzen und krisenhafte Auseinandersetzungen aller
Mitbewohner dazu und wurden unabdingbare Realität. Ihm wurde bewusst, dass er
nach seiner Herkunftsfamilie nun auch die ihm vertraut gewordene Pflegefamilie mit Kindergartenfreunden verlassen hatte. Tiefe Traurigkeit war zu spüren - und da
heraus auch Widerstand gegen das Leben bei uns, denn er wollte nicht mehr bei uns
sein …
Eines Morgens, während ich in der Küche hantierte, kam dieser kleine Junge aus
seinem Zimmer in der oberen Etage herunter zu mir und ich spürte sofort wieder die Traurigkeit, doch heute schien sie mir besonders groß zu sein. Wir - tatsächlich
überwiegend ich - plauderten ein wenig. Doch dann hielt auch ich inne, ließ meine
Tätigkeit ruhen und setzte mich mit meinen bemehlten Händen zu ihm hin.
"Sag mal", so begann ich, "kennst du eigentlich Ralf?" Der Junge schaute mich
fragend an und schüttelte den Kopf. „Dann erzähle ich dir jetzt was“, fuhr ich fort.
"Ralf ist ein großer Mann, er ist schon ein bisschen alt so alt, dass er schon weiße
Haare hat.“ Die Augen des Jungen weiteten sich und er war "ganz Ohr". "Als Ralf
aber noch ein junger Mann war, da traf er ein paar Kinder. Die waren ganz allein,
denn sie hatten niemanden. Das ist manchmal so - vielleicht weil Eltern krank sind oder weil sie nicht wissen wie man auf Kinder aufpasst. Und da hat Ralf gesagt: 'Es
kann doch nicht sein, dass Kinder allein sind' und hat angefangen ein Haus zu bauen. Und alle haben mitgemacht! Als das Haus fertig war, sind sie dort eingezogen und haben es sich richtig schön gemacht. Aber weißt du, was dann passierte?“ Der
kleine Junge schüttelte den Kopf - er war immer noch ganz aufmerksam. "Andere
Kinder hörten davon und klingelten an der Tür, denn sie waren auch allein und
wollten auch dort wohnen. Es war aber kein Platz mehr in dem Haus. Und weißt du,
was Ralf dann gemacht hat?" Natürlich erntete ich wieder ein Kopfschütteln. Ich
erzählte weiter: "Er hat noch ein Haus gebaut!" Der Junge setzte sich gespannt auf
die vordere Kante seines Stuhles. "Und weil er das allein nicht schaffen konnte, lief
er zu den Bürgermeistern der Stadt. Die kümmern sich um Kindergärten und Schulen, dass Spielplätze da sind und dass alles in der Stadt gut funktioniert. Und auch zum Jugendamt lief er, denn da sind auch Erwachsene, die sich darum kümmern, dass alle Kinder einen Platz haben. Und denen hat Ralf erzählt, sie müssten alle helfen: Geld geben, Steine bringen und Betten kaufen. Und dann hat er mehr Erwachsene gesucht, geben, Steine bringen und Betten kaufen. Und dann hat er mehr Erwachsene gesucht, die mit Kinderndie mit Kindern wohnen wollen, so wie alle Betreuer*Innen in unserem Haus. wohnen wollen, so wie alle Betreuer*Innen in unserem Haus. Und auch mehr 'Gerdas' hat er gesucht, die gutes Essen kochen können, damit alle Kinder satt werden. Und Handwerker wie Klaus und Eduard (die waren kurz vorher da) wurden gebraucht, die alle Wände schön streichen und auch Schränke reparieren können. Denn manchmal passiert es ja, dass etwas kaputt geht. Und alle haben mitgeholfen! Nach dem ersten Haus wurde also ein zweites gebaut, dann ein drittes und ein viertes. Und nun gibt es schon dreißig (oder wieviele auch immer) Häuser und überall wohnen Kinder. Und Erwachsene passen auf sie auf."
Die Augen des kleinen Jungen strahlten und er lachte. Wir nahmen unsere Hände und zählten unsere Finger, aber sie reichten nicht. So holte ich Papier und Stifte, schnitt die Blätter in kleine Stücke und fragte, ob er Häuser malen könne. Der kleine Junge zuckte die Schultern. Ich ermutigte ihn, es zu versuchen, so wie Ralf auch versucht hat, das erste Haus zu bauen: Es braucht feste Wände, ein richtiges Dach und auch Fenster zum Rausgucken und eine Tür, durch die man hineingehen kann. Und der kleine Junge bekam die Aufgabe, so viele Häuser zu malen wie Rolf gebaut hat und das schönste dürfe er sich aussuchen das sei dann das Unsere. Da hinein dürfe er dann alle Jungs malen, die hier wohnen.
"Und", erzählte ich zum Schluss, "weißt du, wo Ralf jetzt ist?" Natürlich wusste er es
nicht und schüttelte erneut seinen Kopf. "Ralf ist in …. das ist ein kleiner Ort wie
unserer. Dort steht ein ganz großes Haus, in dem viele Menschen dafür sorgen, dass
du und alle anderen Kinder auch Taschengeld bekommen, dass alle 'Gerdas' Geld bekommen, um genügend Essen einzukaufen, dass hier immer Erwachsene sind, die aufpassen und die nachts hier schlafen damit keiner allein ist und die tolle Sachen mit dir und den anderen machen. Und wenn du Lust hast, besuchen wir Ralf und die anderen Menschen einmal".
Da sprang der kleine Junge vom Stuhl auf, lachte und rief: "Ja, das machen wir und dann nehme ich alle Häuser mit!" Ja, das sei eine gute Idee, erwiderte ich, dann müsse er aber loslegen. Ich holte noch mehr Papier und der kleine Junge hatte für die restlichen Zimmerzeiten des Tages genug zu tun.
Nun musste ich mich aber mit dem Brötchenbacken beeilen. Zum Glück kam noch ein anderes Kind vorbei und half. An diesem Morgen schmeckte uns allen das Frühstück mit den selbstgebackenen Brötchen und der selbstgemachten Honigbutter besonders gut. Ich glaube, die anderen Jungs haben den Zauber, der den großen Herzschmerz vielleicht ein wenig weggezaubert hat, gespürt …
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Upgant-Schott, 27. Juli 2020